Samstag, 5. September 2009

Über die Unmöglichkeit, Gutes zu tun und Schlechtes zu lassen

"Gutes tun, Gutes tun,
Gutes tun ist gar nicht schwer.
Man kann soviel Gutes tun
zu Hause und im Kreisverkehr"1
Funny van Dannen

Über die Unmöglichkeit, Gutes zu tun und Schlechtes zu lassen

Essay über Finanzmarktkrise, Spekulantenschelte und Grenzen der Moralität
Christian Höner
Es gibt kaum ein aktuelleres und dankbareres Thema, dass sich als Dauerbrenner für die Problematik von Schuld und Verantwortung im gesellschaftlichen Maßstab anbieten würde als die Finanzkrise und ihre vermeintlichen Akteure - die so genannten Spekulanten. In keinem anderen Berufszweig scheinen sich die Fragen richtigen bzw. falschen moralischen Handels so zwingend zu stellen wie hier, nirgendwo prallen moralischer Idealismus und gesellschaftliche Wirklichkeit so scharf aufeinan­der und nirgendwo treten die Grenzen und das Scheitern von Moralität deutlicher hervor als bei den Yuppies von der Börse. Die besonderen moralischen Ansprüche, die an diesen Berufsstand angelegt werden, dürften zunächst einmal damit zu tun haben, dass die gesellschaftlichen Konsequenzen dererlei Finanzgeschäfte eine enorme Reichweite besitzen. Nach dem Platzen der Immobilienblase 2008 -und dem vermeintlichen Versagen der Finanzmarktakteure- steht die globale Ökonomie vor einer ihrer schwersten Krisen, wenn nicht gar vor einem Abgrund.
Aber es sind nicht nur die globalen Folgewirkungen, die den Berufsstand des Bänkers bzw. Hedge­fonds-Managers ins Blickfeld der Betrachtung rücken. Es ist vielmehr das, wofür die Charaktermaske des Finanzkapitalisten steht -um eine Marx'sche Begrifflichkeit ins Spiel zu bringen- bzw. wofür sie gehalten wird; es geht um eine Verdichtung von moralischen Ansprüchen an dieser Figur, die sich nicht nur aus den Folgekosten ihren Treibens ergeben. Vielmehr erscheint die Gestalt des Börsenmak­lers als das Mensch gewordene Substrat einer Veranstaltung, die als Kapitalismus letzthin in Verruf geraten ist. In dieser Gestalt bündeln sich dessen Attribute und finden ungeschönte Ausstellung: geld- und profitgierig, ideallos, materiell orientiert, zynisch, kühl kalkulierend, über Leichen gehend. Als Verkörperung dieser Werte galt der Börsianer schon vor der Krise als zumindest im moralischen Sinn anstößig. Popkulturell ist der Börsianer von Hollywood bereits in der Boom-Phase des Yuppie­tums Mitte der 80er Jahre aufgegriffen und bearbeitet worden - also weit vor jeder ernstzunehmen­den Krise. In dem Oliver Stone-Film "Wall Street" begegnen wir der idealtypischen Personifikation eines skrupellosen Börsenmaklers, kongenial dargestellt von Michael Douglas. Er bildet mit seiner Figur des Milliardärs Gordon Gekko das böse Zentrum des Filmes, wenn man so will das Herz der Finsternis, in das sich der Kapitalismus zurückgezogen hat, bevor er der Welt der sozialen Marktwirt­schaft Platz machen musste2. Kapitalismus -so lehrt uns der Film- ist keine totalitäre gesellschaftliche Formation, sondern eine Charaktereigenschaft, eine Untiefe der Seele. Das Unmoralische liegt im Verborgenen. Stone nimmt uns also mit auf eine Odyssee der Moral und sein Odysseus heißt Bud Fox, gespielt von Charlie Sheen. Fox ist zunächst ein leidlich erfolgreicher Börsenmakler in einer drittklassischen Finanzmarktbude. Seine Mittelmäßigkeit reicht hin, um uns mit ihm identifizieren zu können. Erst der Sirenengesang des plötzlichen Erfolgs ent- bzw. verführt uns mit ihm in die Welt des Glamours, des unbegrenzten Luxus, der tollen Autos und der befriedigenden Sexualpartner, kurz: der falschen Götter bzw. der falschen Werte. Sie werden uns vorgestellt als Scheinwelt, hinter deren glitzernder Fassade die blanke Gier steckt. Diese Gier kennt keine Grenzen, vor allem keine morali­schen. Und so kommt, was kommen muss: Die heile Welt der sozialen Marktwirtschaft, repräsentiert durch eine Firma, in der Fox' Vater tagtäglich 'ehrliche Arbeit' verrichtet, wird zum Spielball des skrupellosen Finanzmagnaten. Fox sieht sich nun vor eine Wahl gestellt, die bekanntlich die Voraus­setzung einer jeder Moralität ist. Also endet der Film mit einer Fahrt zum Gericht, wo Schuld und Verantwortung zueinander finden sollen. Dass sich der Film mehr um die Figur des skrupellosen Börsenmaklers dreht als um die von ihm produzierten sozialen und ökonomischen Folgekosten, die im Film nur angedeutet werden, verweist darauf, dass zur damaligen Zeit Oliver Stone als auch das Publikum nur an Fragen der Moralität interessiert waren. Klar, die aufstrebenden Yuppies nervten mit ihrer unverhohlenen Oberflächlichkeit. Ihnen sollte der moralische Stinkefinger gezeigt werden. Dass sie aber das ganze System in die Scheiße reiten würden, daran hätte doch im Ernst niemand geglaubt.
Das war vor dem Millenium. Die casinokapitalistische Virtualität, gleichwohl soziale Wirklichkeit der 80er und 90er Jahre, wurde schlagartig geerdet. Was blieb, war der Katzenjammer und die morali­sche Perspektive. Nur verschärfte sich deren Ton: das ehemals moralisch nur Anstößige wurde nun offenkundige Schuld. Entsprechend einhellig wogt die Empörung um den Globus und durch das deutsche Ländle. Rechte und linke Parteien klagen die Übeltäter an und wissen sich eins mit dem gesunden Menschenverstand; ja, selbst die Liberalen sehen die schwarzen Schafe der Branche am Werk. Gäbe es keine Verantwortlichen, sie müssten erfunden werden.
Es muss geradezu am Subjekt liegen, sei es im individuellen oder im kollektiven Sinne. Nur in der Subjektform kann der Vorwurf der Schuld greifen, kann Moralität eingefordert werden. Wie sollte es auch anders sein? Dass etwas Objektives schuld sein könnte, ist fürwahr eine gewagte Vorstellung. Wenn ein Flugzeug abstürzt, ist dann die Schwerkraft schuld? Sicher nicht, zumindest nicht in einem moralischen Sinn. Und wie wollte man sie verantwortlich machen? Nein, Schuld und Verantwortung hängen am Begriff des Subjekts, sie sind miteinander verwachsen.
Es ist dasselbe Denken, das von einer kategorialen Unschuld des Objektes ausgeht und meint, eine Vorderschaftsrepetierflinte sei ein schnöder Gegenstand, so wie z.B. ein Käsekuchen und nur der subjektive Finger, der abdrücke, könne zur Verantwortung gezogen werden.
In ähnlicher Weise stellt sich das Problem bezüglich der Finanzkrise dar. Geradezu reflexhaft wird nach den Schuldigen, nach den Verantwortlichen Ausschau gehalten, die man eben zur Verantwor­tung ziehen kann; es muss sie ja geben. Es kann, nein, es darf nicht an der Struktur, an objektiven Gründen liegen; undenkbar, dass die zur Quasi-Objektivität geronnenen gesellschaftlichen Formen von Ware und Geld Schuld am Desaster sein könnten. Irgendjemand muss doch irgendetwas falsch gemacht haben, irgendjemand hat sich daneben benommen. Um die Schuldigen dingfest zu machen, schrecken deutsche Finanzminister noch nicht einmal davor zurück, mit Karl Marx einen einstmals zum toten Hund Erklärten als Kronzeugen vorzuführen. Marx, der am Kapitalismus und seinen Freunden kaum ein gutes Haar gelassen hat, scheint sich als Ankläger geradezu anzubieten. Wer es jedoch genauer wissen will und bei Marx nachschlägt, wird (zumindest in dieser Beziehung) eine herbe Enttäuschung erleben. Denn bereits in der Einleitung seines Hauptwerkes "Das Kapital" verkündet Marx:
"Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse ein Wort. Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in einem rosigen Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind [...] Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verant­wortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjek­tiv über sie erheben mag."3
Kapitalismus heißt für Marx offenbar nicht dasselbe wie für Oliver Stone. War Kapitalismus für letzteren eine subjektive Charakterschwäche, so ist er für Marx ein besonderes gesellschaftliches Ver­hältnis und die Subjekte sind Kreaturen dieses Verhältnisses. Schon auf dieser grundsätzlichen Ebene deutet sich ein moralphilosophisches Dilemma an: Wie soll eine Moralität greifen können, wenn die Voraussetzung einer Autonomie der Subjekte, mit der sie operiert, nicht gegeben ist? Jede moderne Ethik steht und fällt mit dieser Autonomie. Wer nun denkt, Marx würde die Autonomie und das Subjekt einfach durchstreichen, liegt jedoch daneben. Marx zeigt vielmehr, dass die Autonomie des Subjekts eine gesellschaftlich gemachte und damit Bedingungen unterworfen ist. Es ist die Crux aller Moralphilosophie, dass sie von diesen gesellschaftlichen Bedingungen nichts weiß oder nichts wissen will. Viel lieber schneidet sie Personen und Handlungen aus Kontexten aus, um die Bedingungen durchzustreichen, die das autonome Subjekt als Moralträger überhaupt erst herstellen.
Kann bereits auf dieser grundlegenden Ebene ein Moraldiskurs nicht greifen, so wird er hinsicht­lich der Ursachenbestimmung von Spekulationskrisen völlig absurd. Im dritten Band des Kapitals, der sich mit dem zinstragenden und fiktiven Kapital beschäftigt, entwickelt Marx nämlich eine Perspektive auf das Problem der Finanzmarktkrise, die den gängigen Erklärungsmustern diametral entgegen läuft. Nicht die Spekulation fiktiven Kapitals ist demnach die Ursprungsort des Crashs, sondern hat seine Ursache in den Widersprüchen der Produktion selber, ist also bereits im prozessie­renden Realkapital angelegt.
Wenn Spekulation gegen Ende einer bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs (crash) auftritt, sollte man nicht vergessen, daß die Spekulation selbst in den vorausgehenden Phasen der Periode erzeugt worden ist und daher selbst ein Resultat und eine Erscheinung (accident) und nicht den letzten Grund und das Wesen (the final cause and the substance) darstellt. Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen (spasms) von Industrie und Handel durch Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller Krankheiten ansehen.”4
Es ließe sich von hier aus zeigen, dass die Aufblähung der Finanzmärkte seit den frühen 1980er Jahren eine Reaktion auf die angestauten Krisenpotentiale des fordistischen Produktionsregimes war, dass es weiterhin die ehrliche Arbeit selber ist, die die Krisen produziert und dass die Aufblähung der Finanzmärkte eine fiebrige Reaktionsform auf diese Krisen darstellt, die so zwar nicht überwun­den, jedoch aufgeschoben werden können. Eine dezidierte Darstellung dieser Problematik kann hier natürlich nicht geleistet werden. Sekundär soll zumindest darauf verwiesen werden, dass die gängige Spekulantenschelte ohne Marx als Kronzeugen auskommen muss. Die Frage der Schuld und Verant­wortung ließe sich mit Marx bezüglich der aktuellen Finanzmarktkrise nur beantworten, wenn wir die Grenzen der Moralphilosophie überschreiten würden und auch etwas Objektives zum Gegen­stand moralischen Urteils werden würde, nämlich die Quasi-Objektivierung der gesellschaftlichen Verkehrsformen von Arbeit, Ware und Geld. Die gelten dem bürgerlichen Denken jedoch als unbe­rührbar. Wenn einige Wirtschaftsethiker sich dem allgemeinen Konsens in Sachen Spekulantenschelte entgegengestellt haben, dann nur, um das Problem der Schuld und Verantwortung von einem Subjekt auf das andere zu verschieben - bis hin zur Konfusion.
"Deutschlands führender Wirtschaftsethiker Karl Homann hält die Finanzkrise in erster Linie für ein Systemproblem, nicht für ein Problem persönlichen Fehlverhaltens. »Ich warne vor dem Moralisieren«, sagte der Wissenschaftler von der Universität München im FTD-Inter­view. »Alle individuellen Kategorien wie Egoismus oder Gier führen in die Irre.« [...] Was jetzt als »Gier« gegeißelt werde, sei im System angelegt: »Unser ganzer Wohlstand beruht auf dem Gewinnstreben, auf dieser Gier. Sie können im Wettbewerb gar nicht anders, weil sonst der andere Sie übernimmt«, meint Homann."5
Soweit so gut. Man könnte fast meinen, Deutschlands führender Wirtschaftsethiker stünde unmittel­bar vor einer radikalen Systemkritik, die anhebt, die systemische Gier zu geißeln. Doch am Ende kennt die Ethik nur Subjekte. Diesem Dogma muss sich auch ein Karl Homann beugen. Das System mag Scheiße sein, wie es will, Kritik daran verbietet sich wie von selbst. Moralität muss von außen kommen, vom Subjekt, in diesem Fall vom Staat:
"Bei der schnelllebigen Finanzbranche müssten die Regulierungsbehörden dagegen täglich die Marktentwicklung beobachten und schädliche Produkte verbieten. Jedes halbe Jahr müssten die Regeln überprüft werden. »Ethik in der Wirtschaft ist heute primär ein Organisationspro­blem, kein individuelles Problem.«"6
Trägt der Staat zwar nicht die Schuld, so soll er doch die Verantwortung für die Regulierung und die Schulden tragen. Dass die Privatisierung der privat akkumulierten Schulden problematisch sein könnte, weiß auch Homann. Doch die Schuldfrage bleibt ungeklärt und so trägt er sie wie eine heiße Kartoffel, von der er nicht weiß, wohin. Alle Konsistenz nun fahren lassend, dementiert er sein eigenes Moralisierungsverbot:
"Die verantwortlichen Manager müssen verschwinden. Ihr Vermögen muss herangezogen werden, dann werden sie sich ihr Verhalten in Zukunft gut überlegen."7
Es sind wahrlich schwere Zeiten für Börsenmakler. Einerseits sollen sie den systemischen Imperati­ven folgen, weil diese unseren Wohlstand schaffen. Andererseits sollen sie es auf eine Art tun, die mit den systemischen Imperativen nicht vereinbar ist. Im Berufsstand des Börsenmakler wird dieser Widerspruch auf die Spitze getrieben. Die Logik der Gewinnmaximierung ist für alle produktiven Sparten ehernes Gesetz. Jeder Autobauer funktioniert nach diesem Prinzip. Doch nur der Börsianer scheint es in Reinform zu repräsentieren; er steht für die Logik des Ganzen8. Und gerade deswegen wird von ihm das Unmögliche eingeklagt. Sich-moralisch-verhalten unter diesen Bedingungen hieße aber, baden zu gehen, ohne sich nass zu machen.

1Funny van Dannen: Album "Clubsongs" (1995)
2Bekanntlich gilt für die postmoderne Welt, in der wir leben, Schein mehr als Sein. Insofern ist es nur konsequent, wenn auf die reale Bedrohung der "sozialen Marktwirtschaft" mit einer Image-Kampagne "Initiative neue soziale Marktwirtschaft" reagiert wird. (http://www.insm.de/)
3Karl Marx: MEW 23, S. 16
4Karl Marx: MEW 12, S. 336f.
5Karl Homann im Interview mit Jens Tardler: "Kategorien wie Gier führen nur in die Irre", in: Financial Times Deutschland, 14.10.2008
6Ebd.
7Ebd.
8Hierin liegt auch die Nähe der Spekulantenschelte zum strukturellen Antisemitismus.

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